PROF. DR.-ING. BORIS OTTO.

Prof. Dr.-Ing. Boris Otto ist seit 2017 Institutsleiter des Fraunhofer-Instituts für Software- und Systemtechnik ISST in Dortmund und seit 2013 Inhaber des Lehrstuhls für Industrielles Informationsmanagement an der TU Dortmund. Er ist Vorstandsmitglied der Gaia-X, European Association for Data and Cloud, AISBL und der International Data Spaces Association (IDSA) sowie Direktoriumsvorsitzender des Fraunhofer-Verbunds IUK-Technologie. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten des industriellen Informationsmanagements, der Geschäfts- und Logistiknetzwerke sowie Methoden für den Entwurf digitaler Geschäftslösungen.

Herr Professor Otto, Sie gelten als einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Data Spaces. Welchen Nutzen verspricht uns diese Technologie?

Prof. Dr.-Ing. Boris Otto: Lassen Sie mich dazu ein Beispiel aus dem Alltag machen: Wenn ich dienstlich von Dortmund nach Zürich unterwegs bin, habe ich mit vielen verschiedenen Mobilitätsanbietern zu tun: Mit dem Bus in Dortmund geht’s zur Stadtbahn. Mit der zum Hauptbahnhof. Mit der Deutschen Bahn zum Flughafen und so weiter.

Eine ganze Reihe an Schnittstellen …

Genau. Und ich bin derjenige, der das alles orchestriert. Ich sitze am Handy, aktualisiere die Angaben und schaue, dass alles irgendwie zusammenpasst. Ich selbst habe aktuell fast 50 Apps nur für Mobilität. Das ist ein unbefriedigender Zustand.

Was wäre die Lösung?

Es wäre doch schön, wenn alle an dieser Reise beteiligten Unternehmen untereinander die Daten über mich austauschten. Dann könnte mich die Fluggesellschaft umbuchen, wenn die Bahn zu spät kommt. Das Einchecken könnte automatisch ablaufen. Das Bezahlen auch. Ich hätte einen orchestrierten Reisedienst.

Klingt wie eine zentrale Reiseplattform…

Beim Serviceangebot: ja. Beim Umgang mit meinen Daten: nein. Ich möchte meine Daten nicht in einen Data Lake kippen, von dem ich nicht weiß, wer noch darin fischt.

Und bei einem Data Space ist das anders?

Ja. Data Spaces, also Datenräume, sind ein alternativer Architekturansatz, der eine Plattform-Funktionalität bietet, jedoch auf Basis einer verteilten Plattform. Das bedeutet, die Daten werden nicht physisch integriert, also nicht gepoolt und nicht zentral gespeichert.

Allerdings müssen die Anbieter dennoch auf die Daten zugreifen können, sonst gibt es ja keinen Service?

Richtig, aber zu Bedingungen, die ich bestimmen kann. Ich kann beispielsweise meine Daten nur für diese eine Reise freigeben oder an ein Angebot wie die Bahncard knüpfen. Da unterscheidet sich die föderierte Struktur der Datenräume von zentralen Plattformen. Es entsteht ein anderes Machtverhältnis.


Wenn verteilte Plattformen funktionieren sollen, benötigen wir Open Source Communities.

Prof. Dr.-Ing. Boris Otto


 

Und wer hat die Macht über einen Data Space? Gibt es überhaupt einen „Betreiber“?

Nehmen wir als Beispiel den „Mobility Data Space“, also den Datenraum Mobilität, denn er hat eine ganz interessante Struktur. Die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften acatech ist Gründungsgesellschafterin der Non-Profit-Organisation, die vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr gefördert wird. Mit dabei als Geselleschafter sind unter anderem drei Bundesländer, einige Automobilunternehmen, Versicherungen, die Deutsche Bahn und die Deutsche Post. Also ein Konsortium, ein Joint Venture aus verschiedenen Interessengruppen, die nicht rein gewinnorientiert sind, sondern auch gemeinwirtschaftliche Zwecke verfolgen.

Zum Beispiel?

Den Verkehr in Städten nachhaltiger zu gestalten. Das ist eine Aufgabe, die nicht zu bewerkstelligen ist, wenn man rein gewinnorientiert motiviert ist.

Ein hehres Ziel. Aber wie löst ein Datenraum die Verkehrsherausforderungen in einer Stadt?

Beim Datenraum geht es um Infrastruktur, um die Basis, die unterste Ebene. Genau wie beim europäischen digitalen Ökosystem Gaia-X oder der International Data Spaces-Initiative. Jemand muss sich darum kümmern, dass Infrastruktur da ist, ohne dass man schon genau weiß, wie sie genutzt wird.

Wie entstehen aus dieser Infrastruktur digitale Lösungen?

Data Spaces sind das Fundament. Da nicht jeder Akteur in einem Data Space von sich aus alle Daten hat, die er benötigt, werden Daten weitergegeben, getauscht, gehandelt. Der Data Space regelt diese Datenökonomie über Policies. So erhalten auch kleinere Akteure wie Start-ups Zugang zu Daten, die eine zentrale Plattform in der Regel nicht weitergeben würde. Daraus entstehen neue Dienstleistungen und Produkte – also innovative Lösungen für bestehende Probleme.

Wie reif ist die Data-Space-Technologie? Gibt es bereits praktische Anwendungen?

Die Idee hinter Data Spaces ist nicht neu. Die ersten Papiere dazu entstanden vor rund 15 Jahren. Die Technologie selbst steht eher noch am Anfang. Seit 2021 gibt es das Branchenökosystem Catena-X, in dem der Großteil der Automobilindustrie über einen Datenraum im Wertschöpfungsnetzwerk Daten untereinander austauscht. Daran beteiligt sind Hersteller aus Deutschland, Frankreich, den USA und Japan sowie viele Zulieferunternehmen.

Mit welchem Ziel?

Es gibt eine ganze Reihe von Anforderungen, die keiner alleine adressieren kann ...

Weil nicht jeder alle Daten hat?

Genau. Nehmen wir als erstes Beispiel die Anforderungen der zirkulären Wertschöpfung, also der Kreislaufwirtschaft, insbesondere für Komponenten von elektrischen Fahrzeugen. Die Batterien brauchen Rohstoffe, die bekanntlich unter verbesserungswürdigen Umständen gefördert werden. Außerdem sind sie teuer und knapp. Insofern können wir es uns nicht leisten, dass sie auf dem Schrottplatz landen. Wir müssen es schaffen, diese Komponenten und Materialien möglichst umfassend einer zweiten Nutzung zuzuführen. Dafür brauche ich Daten über den gesamten Lebenszyklus der Batterie.

Die Anforderungen aus dem Lieferkettengesetz sind ein weiteres Beispiel. Wenn man nur ein Viertel der Wertschöpfung selbst kontrolliert, benötigt man die Daten der direkten Zulieferer, deren Zulieferer und so weiter, um auskunftsfähig zu sein und der Nachweispflicht nachzukommen.

Wann können wir mit ersten Innovationen dieser Datenökonomie rechnen?

Davor sind noch zwei Hürden zu nehmen. Erstens die Data-Readiness der deutschen Unternehmen und Institutionen. Viele sind noch nicht so aufgestellt, dass sie ihre Daten zur Verfügung stellen können. Und zweitens fehlt noch ein breites Verständnis für Open Source, worauf die Data-Space-Technologie basiert.

Was sollte dieses Verständnis beinhalten?

Open Source ist eines der meritokratischsten Systeme, die ich kenne: Je größer das Commitment, desto größer ist die Anerkennung in der Community und gleichzeitig der Einfluss. Wer sich mehr einbringt, kann mehr bestimmen. Das ist die Wahrheit des Codes – das finde ich sehr positiv. Wenn man will, dass verteilte Plattformen funktionieren, benötigen wir Open-Source-Communitys. Sie sind ein Instrument, um die Kraft der vielen nutzbar zu machen.

POSSIBLE.

Auch Bechtle befasst sich mit dem Konzept der Data Spaces. Das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geförderte Projekt POSSIBLE zielt auf die Entwicklung eines innovativen und nutzerfreundlichen Datenökosystems, um verschiedenste Datenräume leicht für Anwender:innen zu erschließen und ihnen einen souveränen sowie selbstbestimmten Umgang mit ihren Daten und datenbasierten Diensten zu ermöglichen – und das über Bereichsgrenzen hinweg. Im Projekt wird dies exemplarisch für die Bereiche Bildung, Unternehmen (mit Fokus auf KMU) und die Verwaltung umgesetzt. Bechtle arbeitet daran gemeinsam mit den Partnern August-Wilhelm Scheer Institut, Dataport, Fraunhofer-Institut FOKUS, imc information multimedia communication, IONOS sowie Univention.

Mehr unter possible-gaia-x.eu

 

Bechtle update 03/2023.

Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Printausgabe Bechtle update 03/2023. Mehr zum Thema lesen Sie dort ab Seite 12.
 

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